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“Die Karte ist nicht das Gebiet” – Alfred Korzybski


Mir fiel dieser weithin bekannte Spruch ein (so ähnlich wie etwa unlängst “Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen”). Bei vielen Sprüchen ist es die Frage: Wer hat das gesagt? Und Aufgrund des Sprechers bewerte ich dann womöglich ganz anders.
Den Spruch von „Die Landkarte ist nicht die Landschaft, aber wenn die Landkarte der Struktur der Landschaft ähnlich ist, ist sie brauchbar“, wie es anscheinend im Original 1 bereits weitaus weniger knackig, umständlicher und weniger geglättet heißt, ordnete ich freilich irgendeinem französischen Strukturalisten der 1950er- oder 1960er Jahre zu. Brachte ihn in Verbindung mit der “rhizomatischen” Idee, mit Mille Plateaux, Deleuze, Guattari, vielleicht Derrida, vielleicht sogar Foucault. Ach, der Dilettant in der Philosophie ist ein Idiot!

Aber eines, so wie der Spruch mit dem Arbeiten und Essen: das war ganz wer anderer. Ein ganz anderer Kontext. Und auch eine andere Auswirkung!

Wer kennt Alfred Korzybski? Einer der Urväter verschiedener psychologischer Modelle und Konzepte. So auch im “NLP”. Tatsächlich scheint der Spruch im Internet fest piratisiert von diversen NLP-Seiten.

Jedenfalls aber ist der Weg zu ihm nicht weit:

Nein, ich kann Alfred dennoch nicht zustimmen, dass alles, was wir sehen, eine Abstraktion sei. Oft genug ist es eindeutig eine Täuschung, wenn nicht gar eine Enttäuschung. Aber – andererseits – ja: Abstraktion, und die Fähigkeit zur Abstraktion von komplexeren Realitäten oder Wirklichkeiten, das ist auch Welt.

Mein bestes Beispiel im Moment ist eine Demonstration über die Auflösungsgrade der Darstellung von “Welt” im Microsoft Flight Simulator 2020. (Siehe unten ein Link. Der Sound dieses Videos hat mich besonders begeistert. Ich höre einen riesigen Chor…!)

Der Gedanke dazu ist, dass die Welt in der virtuellen Version in Texturen aufgeteilt wird. Bäume, Gräser, Wasser, Oberflächen und so fort ist alles “Textur”. Die Zweidimensionalität der Darstellung erzeugt Raumtiefe sehr wohl durch Illusionswirkungen. Aber: Die Welt wird zugleich auch abstrahiert. Die gesamten sichtbaren Oberflächen, Raumbegrenzungen, Profile, wie immer man es nennen möchte, werden zu Texturen umgewandelt. Wichtig im Unterschied / in Erweiterung zu Korzybski ist für mich dieses Gleichzeitig von Abstraktion und Illusion. Durch die Formalisierung – die die Methode der Abstraktion von virtueller Weltdarstellung ist -, entsteht eine Illusion von Welt. Genauer gesagt: eine Illusion der Erde, also von Wirklichkeit im faktischen Sinn. Welt hingegen, das Wort für eine “erkannte” Erde, eine oder meine Wirklichkeit, ist bereits eine Abstraktion – oder auch eine Illusion.
Vielleicht ist das Wort Illusion bei Alfred Korzybski im negativen Sinn gebraucht worden im Sinn einer “Enttäuschung”.
Doch ist es in den meisten Fällen online als “Textur” nur eine Dekoration, nur eine “Inszenierung” eines Spiels, also einer arbiträren Narration. Das nicht geordnete Drama eines Spiels, eine Drama, das zu Beginn des Spiels nur “potenziell” ist und verschiedene Verläufe und “Dramen” enthalten kann, durch das eigene Handeln des “Spielers” ist der Kern dieses Phänomens. Die Welt, die hier als Inszenierung eingebettet wird, ist eine ästhetische Ergänzung, aber nicht das Ziel oder das Eigentliche. Es ist auch keine Abbildung, um der Welt willen, es ist kein Anschauen einer Schönheit der Erde, einer Natur-Stimmung oder etwas, das auf der Erde erscheint und gezeigt wird, sondern “Staffage”, Bühnenbild, Dekoration eben.

Sind Bühnenbilder also “Illusionen”? Nein! Es sind auch keine Abstraktionen. Es gibt sehr wohl abstrahierte Bühnenbilder, in denen es nicht um die Nachahmung der faktischen Wirklichkeit geht, sondern um eine Art “Karikatur” 2

Die Abstraktion ist eine geistige Leistung. Ein Ergebnis eines aktiven Denk-Prozesses. Im Gegensatz dazu ist eine Illusion etwas Spontanes, etwas, das unsere Sinne täuscht und ihnen eine andere Wirklichkeit zu geben scheint, als ist.

Der Film

Ein drastisches Beispiel ist der Film. Godard sprach vom Film als 24 mal Wahrheit pro Sekunde. Hier wird ein Erkenntnis-Schritt übersprungen, nämlich von der Illusion einer Bewegung aufgrund von miteinander verwandten, einander ähnlichen Bildern, die in rascher Abfolge gezeigt werden und sich minimal verändern, hin zu der Erkenntnis des Dargestellten. “Experimenteller” oder auch “Abstrakter” Film – wie jede “abstrakte Kunst”, eine Kunst, die sich der Abbildung von Welt verweigert, und insoferne auch nichts zur Interpretation von Wirklichkeit beiträgt, bleibt im Niemandsland zwischen bloßem Sich-Ereignen, ästhetischem So-Sein und einer Deutung des Dargestellten hängen. Es ist also nicht das Medium, das die epistemologische Interpretation
bestimmt, sondern das, was übertragen wird. Nochmal gesagt: Film ist 24 mal pro Sekunde minimal voneinander abweichende Bilder. Es ist also den Bildern, der Abspielmaschinen, in einem Wort dem “Medium” gleichgültig, ob die gezeigten Bilder etwas mit “Lüge” oder “Wahrheit” zu tun haben. Vielmehr halte ich es für eine inakzeptable Vermischung von Kategorien, zum einzigen Zweck, eine Aufmerksamkeit zu erregen, eine Provokation zu erzeugen, um über die Frage von Lüge und Wahrheit im Medium Film nachzudenken. Was allerdings aus dieser Provokation spricht mit dem schalen Beigeschmack ist die Überrumpelung. Hier werden Regeln gebrochen, um ideologische Stimmung zu machen dazu, dass jemand, der eine Kamera in der Hand hat, per se “Wahrheit” abbilde. Mehr ist da nicht gesagt. Aber gerade das ist fatal: Eine Kamera bildet ab eine Wirklichkeit, die nichts von Wahrheit weiß. Fakten sind keine Wahrheit. Fakten sind auch keine Lügen. Die Bearbeitung und Interpretation machen daraus Wahrheit oder Lüge.

Um nochmal auf Korzybski zurück zu kommen: Ja, da war etwas, das die Karte als Abstraktion erscheinen lässt. Aber eine Karte drängt sich niemandem als eine Illusion von geologischer Wirklichkeit auf. Zwischen beiden liegt eine Körpererfahrung von Wirklichkeit. Wie konnte dieser Unterschied bei Korzybski verloren gehen?

Welt als Textur…

  1. (Aus Wikipedia) Der Satz im Hauptwerk Science and Sanity lautet: „Die Landkarte ist nicht die Landschaft, aber wenn die Landkarte der Struktur der Landschaft ähnlich ist, ist sie brauchbar“[7]. Es zielt darauf ab, dass der Mensch in zwei Welten lebt: in der Welt der Sprache und der Symbole und in der realen Welt der Erfahrung. Korzybski legte dar, dass die Welt der Sprache eine Abstraktion der Welt der Erfahrung ist und daher die Abstraktion (die Landkarte) niemals mit der Erfahrung (der Landschaft) identisch sein kann. Und er wies auf folgendes hin: Wenn die sprachliche Welt die Welt der Erfahrung nicht adäquat abbildet, läuft der Mensch, geleitet von einer falschen Landkarte, in die Irre. Siehe auch das „Strukturelle Differential“ !
  2. Karikatur ist ein lateinisches Wort, bei dem etwas “beladen” ist, wie ein “Karren”, also eine Darstellung wird übertrieben, um Unterschiede deutlich zu machen, bestimmte Merkmale herauszustellen und überlebensgroß werden zu lassen. Sie ist Spott, insofern inkompatibel mit zeitgenössischen Praktiken der _Political Correctness”. oder auch “Betonung durch Weglassen von Details”.

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