L’art pour l’art

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Gedanken über “Musik zum Selbstzweck”

Auf das Wort vom “Selbstzweck” der Kunst in einem Gespräch kam mir spontan das Bedürfnis mit ein paar ausformulierten Gedanken zu reagieren.

Ich möchte damit ein Feld öffnen für eine andere Sichtweise auf eine Musik, die von den meisten Menschen eher abgelehnt wird. Diese Ablehnung, oder nennen wir es Vorbehalte, sind hauptsächlich auf eine Erwartung zurück zu führen. Musik soll in dieser Erwartung vor allem im ästhetischen Sinn irgendwie “ansprechend” sein. Mit Absicht formuliere ich dieses Kriterium so vage, weil es vage ist. Stellen wir uns nun alternativ vor, wir würden eine Musik eben gerade NICHT im ästhetischen Sinn beurteilen. Wie würden wir über Musik sprechen und sprechen können?

Im Allgemeinen kreisen Deutungsversuche von musikalischen Darbietungen häufig in-sich, beziehen sich immer wieder auf ein ästhetisches Moment, das aber auch im Fall einer Zustimmung negativ in etwa so formuliert wird: “Musik, (Kunst) muss nicht immer gefallen” oder “Kunst kann soll auch aufrütteln oder ratlos machen” etc. Diese abgegriffenen Satzhülsen sind Ready-Made-Erklärungen, aber keine tiefergehenden Erklärungen für das Phänomen. Solche Aussagen bleiben auf halbem Weg in der Luft hängen, gehen nicht über eine vage Gefallens- oder Missfallenskungebung hinaus.

Gefallen und Missfallen auszudrücken ist in der Kunst eine übliche, wenn nicht die üblich Reaktion. Im Verein für musikalische Privataufführungen, den der Kreis um Schönberg mit Konzertprogrammen betrieb, waren jegliche Gefallens- und Missfallenskundgebungen unerwünscht. Das mag uns heute seltsam und geradezu diktatorisch anmuten, doch aus anderem Grund war es damals und noch lange danach auch am Wiener Burgtheater unüblich, nach einer Vorstellung Beifall zu spenden. Das hatte mit der Rolle dieses Theaters als Hoftheater zu tun, in dem es dem obersten Mäzen, also dem Kaiser, zukam, über die Leistungen an seinem Theater zu urteilen. Diese gesellschaftlichen Usancen und Etiketten sind für uns heute unvorstellbar. Allein daran erkennen wir aber auch die Leistungen, in vielen einzelnen Schritten erbracht, sich zu einer egalitären Gesellschaft hinzuentwickeln wo wir heute sind.

Im erwähnten Kreis um Schönberg wollte man sich einer gerade entwickelnden Kunstsprache nicht durch ablehnende und verhindernde Vorurteile aussetzen. Eine nicht ganz unproblematische und durchaus auch diskutierenswerte Vorgabe. Allerdings wurde diese Situation nach dem zweiten Weltkrieg in die Gesellschaft ausgeweitet.

Nicht vergessen dürfen wir die unsägliche Denunziation von Künstlern in den Ausstellungen “Entartete Kunst”, die als Horrorkabinett konzipiert war, um abschreckend auf die Bevölkerung zu wirken. Es sollte aus der politischen Habenseite des Nazi-Regimes verbucht werden, wovor das Regime den deutschen Bürger gewissermaßen “bewahrt” hätte. In geballter und gesammelter Form war in diesen Ausstellungen alles zusammengetragen worden, was für uns heute, aus heutiger Sicht auf die Musik der 1920er und 1930er Jahre bedeutend erscheint. Dabei war das Bias einer Versammlung von Kunst jüdischer Autoren nicht unbedingt das oberste Kriterium. Es wurde lediglich deduziert, dass aufgrund der vielen jüdischen Künstler in der Ausstellung, alle diese Arten von neuen Denk- und Ausdrucksweisen jüdisch sein müssten. Was nicht zutrifft. Weder Berg noch Webern waren beispielsweise jüdischer Kultur entsammend, ebensowenig Hauer.

Diese Kombination führte zu einer unheilvollen – wie es von den Nazi auch perfide geplant gewesen war – Konfliktsituation in der Gesellschaft vor allem auch dann noch in der Nachwirkung, als der Krieg und die Nazi-Diktatur schon vorüber waren. Eine Dritte Komponente verkomplizierte das “Schlamassel” noch: Die Verknüpfung der entarteten Kunst als spezifisch jüdische Kunst mit dem Kommunismus, vor allem sowjetischer Provenienz.

Was immer man hätte gegen einen dieser Aspekte vorbringen können, da waren dann noch die beiden anderen, die man hätte ebenfalls entkräften müssen. Im Alltag ein schier aussichtsloses Unterfangen!

Nach dem Krieg also war zum einen dieses zementierte Vorurteil zu übersteigen, zum anderen ist es unableugbar, dass die moderne und avantgardistische Kunst nur eine kleine Anhängerschaft hatte, allein schon aus dem Grund, dass sie sich selbst als gesellschaftsrelevant und -verändernd verstand, also politisch agitativ, und das in erster Linie im sozialistischen, “linken” Sinn, und nicht reaktionär bewahrend, was ja das Credo des nazionalsozialistischen Kunstverständnisses – oder deren “Weltanschauung” wie die Nazi es nannten – gewesen war, und sehr stark natürlich auch nach dem Mai 1945 fortwirkte.

Die neue Generation, die wir in den kommenden Kapiteln genauer beleuchten werden, rottete sich von Darmstadt als neuem Zentrum einer radikalen neuen Komponisten-Szene zu einer Meinungsmacher-Gruppe zusammen, die im Sinn einer militärischen Vorhut, woher auch der Ausdruck “Avantgarde” kommt, der Gesellschaft den weiteren Weg in die Zukunft weisen wollte. Dabei wurde insofern aber subtiler vorgegangen als zu Zeiten von Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen, in dem nämlich Missfallen als Ungebildetheit, Ignoranz, Inkompetenz und im schlimmsten Fall als reaktionär, wenn nicht gar faschistisch angeprangert wurde. Dieser Meinungsdiktatur war schwer beizukommen, als zum einen rhetorisch versierte, hochintelligente und auch ambitionierte “Kulturrevolutionäre” – das ist meines Formulierung! – in dieser Gruppe das Wort führten. Sie bestimmten auch, was noch in der Gruppe zulässig war und was nicht mehr. Vereinfacht wurde diese Zugehörigkeit in den 1950er Jahren durch die rational und theoretisch sehr gut darstellbare serielle Kompositionstechnik. Doch dazu in einem anderen Kapitel mehr. Selbst in den 1970er Jahren kam es zu einem Eklat, als der Schlussakkord aus Tönen von C-Dur in der Komposition Subkontur des damals jungen Komponisten Wolfgang Rihm dazu führte, dass er als “faschistoider” Komponist denunziert wurde. Auch in einem Interview mit dem Komponisten Yannis Xenakis sagt dieser, dass die Darmstadtgruppe “Faschisten” gewesen seien. Das ist insofern erstaunlich und erschütternd, als gerade diese Avantgarde antrat, sich gegen die Meinungsdiktatur der Nazi kreativ und wortgewandt in die damals neu zu gestaltenden Zeiten zu bewegen.

Was aber ungeachtet dieser Schlammschlacht um die neue Musik alle verbindet, nicht immer ausgesprochen oder explizit, war die tiefe Skepsis gegenüber jeglicher Funktionalisierung von Kunst. Am Leichtesten fällt ein solches Entkommen einer Zweckdienlichkeit von Kunst, wenn sie niemandem gefällt. Dieser seltsam klingende und wie dahingesagte Satz ist für mich einer der zentralen Schlüssel, um all jene Kunst zu verstehen, die nicht gefällt. Es ist sogar so, dass das Argument, dass dann jeder Dilettant Kunst machen könnte, letztlich sogar zutrifft. Und nicht nur das, sondern es wurde im Lauf der Jahrzehnte seit 1945 bis heute auch mehrfach und in unterschiedlichen Formulierungen propagiert. Eine der Griffigsten wird wohl Andy Warhols Behauptung sein: “”In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes.” This celebrated quote has become Andy Warhol most well-known statement. It led to the concept of “15 minutes of fame” — the idea that celebrity, from media scandals to memes, will almost always be fleeting.

According to new evidence, however, it very well could be that Warhol never said this.

The original quote seems to trace back to a 1968 brochure Warhol distributed at one of his exhibitions in Sweden. But, according to art critic Blake Gopnik, it could have been Pontus Hultén, a famous curator in Europe, who coined the phrase. There are other claimants, too, including painter Larry Rivers and photographer Nat Finkelstein. Finkelstien insisted that he made the remark in reply to a comment that Warhol made about everyone wanting to be famous, quipping, “Yeah, for about 15 minutes, Andy.”

As Gopnik explains to Marketplace, Warhol himself admitted to never saying it in 1980. But by then, the line was firmly his. And as Gopnik points out, it really didn’t matter. By that point, Warhol, an artist who explored the concept of branding, was firmly a brand of his own, and the 15-minutes quote fit in with that story nicely. “We’ve decided it’s by Warhol, whether he likes it or not,” Gopnik told Marketplace. “We’ve created and continue to create the Warhol brand for ourselves.”

Q: https://www.smithsonianmag.com/smart-news/andy-warhol-probably-never-said-his-celebrated-fame-line-180950456/#:~:text=%22In%20the%20future%2C%20everyone%20will,will%20almost%20always%20be%20fleeting.

In anderen Worten könnte man in Bezug auf alle jene Kunst, die uns nach herkömmlicher ästhetischer Beurteilung missfällt behaupten, sie verweigere sich in erster Linie einer Vereinnahmung für einen anderen als ihren eigenen künstlerischen Zweck. Dieses in der Wirtschaft als “In-sich-Geschäft” bezeichnete Verfahren, schützt die Musik, für politische, religiöse, sonstige ideologische Zwecke – und letztlich auch gegen kapitalistische – eingesetzt zu werden. Dabei sei gesagt, dass der Kapitalismus keine Ideologie ist, sondern lediglich eine Gier nach Profit und Macht, also etwas durch und durch Natürliches.

Von Hermann Hesse gibt es einen Roman mit dem Titel “Das Glasperlenspiel”.

Wikip: “In der von Hesse entworfenen Welt bilden die (männlichen, zölibatär lebenden) Gelehrten einen straff organisierten Orden, der in der „Pädagogischen Provinz“ Kastalien lebt – der heilen, abgeschotteten Welt einer geistigen Elite, die sich in Universalität und Harmonie entfaltet und darin ihren Selbstzweck erleben darf. Seine Aufgaben sieht der Orden im Bildungssystem (das ihm wiederum zur eigenen Reproduktion dient) und in der Perfektion der Wissenschaften und Künste und insbesondere der Synthese beider Bereiche, dem Glasperlenspiel.”

Es handelt sich dabei um den Versuch einer kunstvollen, ästhetisch ansprechenden Vereinigung aller Wissenschaften, der Versuch einer Universalsprache, einer übergreifenden Verknüpfung aller Sachgebiete zu einem großen Ganzen. Die genauen Regeln dieses Spiels werden nur angedeutet und sollen so kompliziert sein, dass sie nicht einfach zu veranschaulichen sind. Das Spiel hat bereits quasirituellen Charakter angenommen; Ziel scheint es zu sein, tiefe Verbindungen zwischen scheinbar nicht verwandten Themengebieten herzustellen und theoretische Gemeinsamkeiten von Künsten und Wissenschaften aufzuzeigen. Beispielsweise wird ein Bach-Konzert mit einer mathematischen Formel verknüpft. Der Publikumserfolg für ein „gutes Spiel“ wird dabei sowohl durch musikalische Klasse als auch mathematische Eleganz erreicht.”

“Neueren Forschungen zufolge war es Hauer, dem Hermann Hesse in seinem Glasperlenspiel ein Denkmal schuf. Seine “Zwölftonspiele” , von denen rund 1000 existieren, zeigen, wie sich Hauer die Tonkunst vorstellte: Ihm schwebte eine Einheit von Musik und Kosmos vor, wobei er auf die antike Idee der “Sphärenharmonie” ebenso zurückgriff wie auf fernöstliche Denkweisen. Ob man seine esoterische Haltung teilen mag oder nicht: Hauer hat die Möglichkeiten, wie Musik zu verstehen ist, nachhaltig erweitert. (Daniel Ender, DER STANDARD/Printausgabe 24.9.2009) “

Q: https://www.derstandard.at/story/1253596445545/josef-matthias-hauer-glasperlenspiel-und-sphaerenharmonie

Wenn wir die hier angesprochenen Selbstzweck von Kunst, der durchaus auch negativ betrachtet wurde, mit der Geschichte des “L’art pour L’art” in Verbindung bringen, sehen wir in den Anfängen, das heißt etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Paris bei Benjamin Constant und Victor Cousin die Auffassung, dass der Zweck die Kunst verunstalte. Umgangssprachlich wird das gefasst im angeblich von Goethe stammenden Bonmot: “So fühlt man Absicht, und man ist verstimmt.” In dieser Zeit wird der Zweck als profan und daher in einer auratischen Kunstbetrachtung als wertmindernd angesehen. Leicht wandelt sich diese von mir als “auratisch” bezeichnete Auffassung von Kunst in eine simplifizierte ästhetische Sichtweise. Mit Fortschreiten des Jahrhunderts lässt sich eine zunehmend elitäre Haltung in dieser Frage ausmachen. Es sein “lächerlich, von einem Kunstwerk zu erwarten, dass es zu irgendetwas diene”, formulierten die Schriftsteller-Brüder Edmond und Jules Goncourt 1866. Schließlich setzt sich wieder Theodor W. Adorno mit dem Thema kritisch auseinander. Für ihn geht es dabei um den Realitätsbezug, den Kunst haben soll. Die schon bei Hesse und in Thomas Manns Musiker-Roman “Doktor Faustus” angesprochene Befürchtung, dass eine Musik, die sich elitär nur noch mit sich selbst beschäftige, für die Gesellschaft irrelevant würde, und daher – um wieder zu Adorno zurück zu kommen – ihren Widerstand gegen eine Kulturindustrie aufgeben würde, reduziert zu einem bedeutungslosen Massenprodukt, hat sich allerdings heute – 2020 – bei genauerem Hinsehen auf das Musikbusiness bewahrheitet.
Von Adorno gibt es übrigens ergänzend noch erwähnt auch die in diesem Zusammenhang interessante Formulierung von der “Entkunstung der Kunst” gerade in jenem Grad, in dem die Kunst “nützlich” gemacht werde.

Die Loslösung von einer Zweckgebundenheit der Kunst ist aber auch heute noch ein wesentliches Moment des Selbstverständnisses vieler Künstler und in Bezug auf ihre Arbeiten.
Hinter der Geschichte der Kunst verbirgt sich auch und vor allem eine Geschichte von Produktionsprozessen. Die Finanzierung, Distribution und Bewertung von Kunst ist es, was die Kunstgeschichte vorantreibt und verändert. Eine Epoche beschreibt ihre eigene Kunst anders als ihr nachfolgende Epochen. Bewertungen und Gewichtungen erfolgen im Nachhinein anders, manches wird vergessen und wird bedeutungslos, was zum aktuellen Zeitpunkt weite Sichtbarkeit oder Bedeutung genossen haben mag.

Ein Teil dieser Bedeutungskonstruktion ist auch das Selbstverständnis der Künstler. Ob eine Kunst als ideologisch und politisch wirksam erachtet wird, für sich oder im Dienste existierender Ideologien, oder ob sie hermetisch und auf sich selbst referierend ist, spiegelt nur wieder, was uns alle betrifft. Die Projektion von Vorstellungen auf das, was wir äußern, was wir produzieren, decken sich in wenigen Fällen. “Gemeint” hat der Autor es oft anders, als es verstanden wurde.

In diesem Feld von Projektion und Vorstellung undRealität entsteht auch eine Transformation von Kunst dadurch, dass sie in eine Funktion und Abhängigkeit von etwas gebracht wird, das außerhalb der Musik liegt. Sei es Musik für bestimmte Anlässe, von Festen und Feiern über Märsche, bis hin zu Liedvertonungen verschiedener Ideologien und Religionen. Sie stellt sich “in den Dienst einer Sache” und ist damit nicht mehr “Selbstzweck” und L’art pour l’art.

Ob nun der Künstler von sich aus und von vornherein sein Opus für eine solche Funktion erschafft oder dem Werk erst im Nachhinein eine Funktion unterschoben wird, sind mögliche Unterscheidungen. Wenn allerdings das Credo des Künstlers die Verweigerung ist, sich jeglicher Funktionalisierung verweigernd, dann gehört hier auch die Verweigerung einer Ästhetik der wie immer gearteten “angenehmen”, “positiven” Wirkung des Kunstwerks auf seine Rezipienten, der Musik auf die Hörer und Hörerinnen dazu. Eine Verweigerung der Funktionalisierung von Musik kann nur eine totale sein und schließt daher konsequenterweise auch die Ästhetik ein. Also alles, was man über eine Musik sagen könnte, das in die Kategorie von “gefällt/gefällt nicht” .. fällt.

Was aber bleibt dann?

Was bleibt ist das “Denken”, der “Gedanke” und die “Idee”, die zu dem Kunstwerk geführt haben. Eine Idee zu einem Werk erzeugt eine Notwendigkeit: Die Notwendigkeit seiner Existenz. Die Notwendigkeit, es zu erschaffen. Der Wunsch, es zu schaffen, zu kreiiern, zu tun.

Das führt letztlich zur Wahrheit über die Kunst, dass es keinen objektiven Grund für die Existenz der Kunst gibt. Sie lässt sich nicht “erklären”. Es lässt sich auch nicht ex-post erklären, warum sie so und nur so sein kann. Jegliche Analyse von Kunst muss notwendigerweise zu kurz greifen und versagen angesichts der komplexen Ganzheit eines Kunstwerks. Sonst würde eine Besprechung des Werks das Werk ersetzen können. Das wiederum würde die Kunst ad absurdum führen.

Was außerdem bleibt ist das Sprechen über den Weg, wie es zu der Kunst kommt. Also ein Sprechen über die Genesis von Musik. Wie wurde sie gemacht? Was war die Idee, waren die Gedanken, die geholfen haben, sie zu komponieren? Worauf beruht die Musik? Also die Theorie, alles Formalisierbare an Musik, das Regelwerk und die Methode.

Wir sind hier nicht oder noch nicht soweit, über eine Musik zu urteilen, ob sie “gut” oder “schlecht” ist. Das lässt sich universell wahrscheinlich auch gar nicht sagen.

Jede Musik entstammt – ob die Künstler es wollen oder nicht – aus einem kulturellen System, oder auch aus mehreren, vielleicht patchworkartig zusammengefügten Systemen. Diese Systeme tragen mit sich Kategorien der Beurteilung, Regelwerke, nach denen “Meisterwerke” definiert werden, und mit einem Wort alles das, was eine bestimmte Musik dann als “gut” oder “schlecht” erscheinen lässt. Sie ist also wie alles andere Kulturbezogene ein Produkt eines kollektiven gesellschaftlichen Selektionsvorgangs, der sich kontinuierlich durch die fortschreitende Zeit der Epochen und Jahrhunderte im Bestehen einer Kultur hinzieht.

Wenn wir nun das Gedankenexperiment machen und uns ein “Musik-System” vorstellen, das weder einer bestimmten ethnografischen, also außereuropäischen Musik-Tradition entstammt, noch einer europäischen, das sich völlig aus allen Regelwerken der abendländischen Musik herauslöst, dann entspricht es auch keiner der Beurteilungskriterien und kann logischerweise auch für sich betrachtet, für das was es ist, nicht mit unseren ästhetischen Beurteilungsmaßstäben bewertet werden. Sogenannte “Cross-Over” Programme in der Musik funktionieren nur aus zwei Gründen: entweder, weil das Publikum kein tiefergehendes Wissen über den kulturhistorischen Kontext der Musik hat, also nur sehr oberflächliche Musikhörer sind, oder weil die programmierten Musiken in Wirklichkeit keinen tatsächlich verschiedenen Kulturen angehören.

Das alles sei natürlich gesagt vor dem Hintergrund, dass jeder Ton ein physikalisches Phänomen ist, einer Physik, die universell auf der ganzen Erde gleich gültig und gleich wirksam ist und ebenso alle physiologischen Gehörssysteme aller Menschen dieser Erde gleich gebaut sind. Auf der rein “physikalischen” Seite ist also jede Musik gleich.

Das zuvor angesprochene Gedankenexperiment einer Musik, die sich völlig außerhalb unserer bisherigen kulturellen Vorstellungen bewegt, war das Thema der neuen Generation nach 1945, also jener in den 1920er Jahren Geborenen Kriegs-Generation, die antrat, um alles anders – und besser zu machen.

Hierzu gehört auch auf einer gewissen Ebene eine Verweigerungshaltung. Je nach je eigenem Bewusstheitsgrad der Protagonisten, der Komponisten und Theoretiker, wurde das deutlich erkannt.

Uns heute kann dieser Denkansatz helfen, sich von der bloß ästhetisch eingeschliffenen Reaktion zu lösen, aus der heraus wir automatisch sofort auf das zurückgreifen, was uns “gefällt” und was uns “nicht gefällt” und daher ablehnen. Aus genau diesem Grund der Überbewertung eines “Spontanen” kam auch die Ablehnung der Improvisation in der Musik in den ersten fünfzehn bis zwanzig Jahren nach dem Krieg.

Der Umgang mit ungefilterten Emotionen war nach dem Krieg problembelastet und das mag mitgespielt haben, zusammenwirkend mit dem Wunsch nach einer Lösung von der unmittelbaren ästhetischen Reaktion. Meist greifen spontane Reaktionen auf komplexe Angebote nur auf eingelernte und erworbene und damit “unauthentische” Repertoires zurück, ohne zu nachhaltigen neuen Erlebnissen und Werken zu gelangen, vor allem deshalb, weil es dafür eben keinen gedanklichen und theoretischen Unterbau gibt. Der Ausspruch “man steht sich selbst im Weg” mag gerade hier zutreffend sein. In der heute stark betonten – und meiner Meinung nach überbewerteten – persönlichen “Individualität” findet man sehr häufig keine echte Individualität, die sich dadurch auszeichnet, dass sie authentisch auf selbst hervorgebrachten Kreationen beruht, sondern bei genauerem Hinsehen aus der Kopie schon existierender Vorbilder besteht. Vor allem dann, wenn man sich dieser Vorbilder gar nicht bewusst ist, mag man von der vermeintlichen eigenen Individualität am stärksten überzeugt sein.

Wir sehen hier die mannigfaltig ineinander verschlungenen Problematiken, wie sie in der Kunst zutage treten, weil sie einerseits immer auf Regeln oder Systemen beruhen, andererseits aber Träger von subjektiven Projektionen, Ich-Bildern, biografischen Verwerfungen und persönlichen Ambitionen sind. Diese Liste ist bei weitem nicht vollständig.

Der kollektiv in den 1950 und 1960er Jahren vorherrschende Zeitgeist von technologischer Machbarkeit, ein bis in ein utopisches gerichtetes Zukunftsdenken und vielleicht auch die Überzeugung, mittels objektivierender analytischer Wissenschaften alle Probleme des Menschheit lösen zu können, ist für uns heute, in 2020, kaum noch vorstellbar.

Aus diesem Zeitgeist heraus lässt sich auch Bereitschaft, Überzeugung und sogar Begeisterung in weiten und meinungbestimmenden gesellschaftlichen Kreisen für ein absolut Neues “an sich” erklären, das den abgehobenen Ideen, Manifesten und Konstrukten der Künstler 1959 er unr 1960 weitesten Raum in der Gesellschaft zugestand und förderte. Politisch gesehen war die sozialistisch links angesiedelte Überzeugung auch ideologisch die Gewinnerin des Kriegs. Alles, was nach Vergangenheit und Tradition roch, war verdächtig und nicht zeitgemäß. Dieses “Totschlag-Argument” brachte durchaus auch wieder seine eigenen Opportunisten hervor, ließ so manchen begabten und talentierten Künstler “im Regen stehen”, der in sich so gar nichts anfangen konnte mit diesem Zeitgeist. Der Druck der Gesellschaft und “Peers” auf die junge Komponistengeneration war enorm, sich entweder anzuschließen, oder ausgeschlossen zu werden.

Es bleibt die Erkenntnis, dass es außer rein subjektiver spontaner Zustimmung und Ablehnung von Musik nach etablierten ästhetischen Normen, auch noch eine ganz andere Zugangsweise zu Musik gibt, nämlich im Grund zur Musik jeder Epoche und Geografie, die erst durch eine weitergehende Kenntnis ihrer Struktur, Machart, der Umstände und Hintergründe ihrer Entstehung, einen Wert für uns bekommen, und gerade durch diesen Mehraufwand zu einem für uns persönlich relevanten und wertvollen Kunstwerk werden können.

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